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Frauen-Fussball-WM in Neuseeland und Australien: Detektivarbeit gegen Kopfverletzungen

Heftiger Zusammenprall zwischen Torwart Alireza Beiranvand (l.) und seinem iranischen Teamkollegen Majid Hosseini – Bild: Alessandra Tarantino/AP Photo/picture alliance

In Neuseeland und Australien werden erstmals bei einer Frauenfußball-WM “Gehirnerschütterungs-Detektive” eingesetzt. Das Risiko, sich Kopfverletzungen zuzuziehen, ist für Frauen möglicherweise größer ist als für Männer.

Alex Greenwood wollte weiterspielen, na klar. Schließlich ging es Anfang April im Wembleystadion um den erstmals ausgespielten Titel im “Women’s Finalissima”: Europameister England spielte gegen Südamerikameister Brasilien. In der 73. Minute schlug Abwehrstar Greenwood nach einem Zweikampf mit der Brasilianerin Geyse mit dem Kopf hart auf dem Rasen auf, musste minutenlang behandelt werden – und spielte weiter. Im Elfmeterschießen, das entscheiden musste, traf Greenwood und jubelte am Ende mit den “Lionesses” über den Titel.

Einen Tag später verließ sie das Nationalteam, offiziell wegen Kniebeschwerden, inoffiziell, weil sie nach dem Vorfall geschont werden sollte. Expertinnen und Experten kritisierten in scharfer Form, dass Greenwood trotz Verdachts auf eine Gehirnerschütterung weitergespielt hatte. Geht es nach dem Willen des Fußball-Weltverbands FIFA, wird sich ein solcher Vorfall bei der bevorstehenden Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) nicht wiederholen.

Positive Erfahrungen in Katar

Erstmals bei einer Frauen-WM setzt die FIFA sogenannte “concussion spotters” ein. Diese “Gehirnerschütterungs-Detektive” verfolgen die WM-Partien am Bildschirm und haben auch die Möglichkeit, sich bestimmte Szenen noch einmal in Zeitlupe anzusehen. Denken die von der FIFA beauftragten Sportmediziner, eine Spielerin könnte sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen haben, schlagen sie Alarm und informieren die Teamärzte der beteiligten Mannschaften. Die Premiere dieser “Detektive” bei der WM der Männer Ende 2022 in Katar sei ein Erfolg gewesen, “da die FIFA positives Feedback von den teilnehmenden Mitgliedsverbänden erhielt”, antwortete der Weltverband auf eine Anfrage der DW. “Generell hat die FIFA das Thema Hirnverletzungen im Fußball zu einem der Hauptziele ihrer medizinischen Abteilung gemacht.”

Auch in Katar hatte es einen Fall wie jenen von Alex Greenwood gegeben: Im ersten WM-Spiel Irans gegen England (2:6) hatte Torwart Alireza Beiranvand zunächst weitergespielt, obwohl er nach einem heftigen Zusammenprall mit einem Teamkollegen aus der Nase geblutet hatte und minutenlang behandelt worden war. Wenig später wurde Beiranvand dann doch ausgewechselt und ins Krankenhaus eingeliefert. Dem Vernehmen nach hatte der “concussion spotter” der FIFA interveniert. In den Tagen nach dem Spiel forderte der Weltverband nach Medienberichten das iranische Team dringend auf, künftig das FIFA-Behandlungsprotokoll für Kopfverletzungen einzuhalten. Danach hätte Beiranvand sofort vom Platz genommen werden müssen.

Warnung vor Langzeitfolgen

“Gehirnerschütterungs-Detektive” sind keine Idee der FIFA. Vielmehr ist der Weltverband mit deren Einsatz im Vergleich zu anderen Kontaktsportarten sogar eher spät dran. So hatte die American-Football-Liga NFL bereits in der Saison 2012 damit begonnen, mit Blick auf mögliche Kopfverletzungen alle Spiele von unabhängigen Sportmedizinern überwachen zu lassen. Seit 2015 dürfen sie Partien unterbrechen, seit 2016 sind sogar zwei Experten pro Spiel im Einsatz. Im Durchschnitt melden die “Detektive” zwei Verdachtsfälle auf Kopf- oder Nackenverletzungen je Partie.

Wissenschaftler warnen schon seit vielen Jahren nicht nur vor unmittelbaren, sondern auch vor langfristigen Folgen schwerer Kopfverletzungen im Sport: etwa einem höheren Risiko im Alter für neurodegenerative Krankheiten wie CTE (Chronische Traumatische Enzephalopatie, auch Boxer-Syndrom genannt), Alzheimer oder andere Demenzerkrankungen.

Englands Torhüterin Mary Earps kümmert sich um die angeschlagene Verteidigerin Alex Greenwood (l.) – Bild: Claire Jeffrey/Sports Press Photo/IMAGO

Ungleichheit bei sportmedizinischer Versorgung

Sportlerinnen wurden bislang bei den wissenschaftlichen Untersuchungen eher vernachlässigt, rund 80 Prozent der Teilnehmenden waren Männer. Dabei gibt es in mehreren Studien Hinweise darauf, dass sich Frauen – aus unterschiedlichen Gründen – im Sport häufiger Gehirnerschütterungen zuziehen als Männer. Und dass sie länger brauchen, um sich von Kopfverletzungen zu erholen. In der Wissenschaft wird aus diesem Grund darüber diskutiert, ob es Sinn ergibt, eigene Behandlungsprotokolle für Sportlerinnen einzuführen.

Jaclyn Caccese von der Ohio State University, die seit langem zu Kopfverletzungen im Sport forscht, sieht dies nicht als oberste Priorität. “Anstatt sich auf Gehirnerschütterungsprotokolle zu konzentrieren, die auf Frauen zugeschnitten sind, sollten wir uns zunächst darum bemühen, sicherzustellen, dass Frauen den gleichen Zugang zu sportmedizinischer Betreuung erhalten”, sagt die US-Wissenschaftlerin der DW. “Ungleichheiten bei der [sportmedizinischen – Anm. d. Red.] Versorgung können zu einer geringeren Aufklärung über Gehirnerschütterungen führen, zu einem verzögerten Ausschluss vom Spiel, einer verzögerten Diagnose, einem verzögerten Beginn der Behandlung und letztlich zu einer verzögerten Genesung.”

Mehr Sicherheit, unabhängig vom Geschlecht

Ähnlich sieht es Tracey Covassin, ebenfalls eine Expertin für Kopfverletzungen im Sport. Es müsse sichergestellt werden, “dass bei allen Sportarten ein zertifizierter Sportmediziner anwesend ist, nicht nur bei Football-Spielen”, sagt die Professorin an der Michigan State University der DW. “Der Frauensport muss ernst genommen werden, und die Anwesenheit eines Sportmediziners ist der erste Schritt, um sicherzustellen, dass alle mutmaßlichen Gehirnerschütterungen von einem Gesundheitsdienstleister untersucht und behandelt werden.” Alle Gehirnerschütterungen, so Covassin, sollten “individuell behandelt werden, unabhängig vom Geschlecht”.

Beide Wissenschaftlerinnen halten den Beschluss der FIFA für sinnvoll, bei der WM in Australien und Neuseeland “Gehirnerschütterungs-Detektive” einzusetzen. “Ich bin der Meinung, dass alles, was in Männersportarten für mehr Sicherheit sorgt, auch in Frauensportarten eingeführt werden muss, und das ist ein guter Anfang”, sagt Covassin. “Wenn der ‘Detektiv’ dazu beitragen kann, dass nur eine Athletin mit Gehirnerschütterung nicht auf das Spielfeld zurückkehrt, haben wir schon etwas für die Sicherheit der Sportlerinnen getan.”

Konservativerer Ansatz bei Frauen

Die FIFA sieht keine Notwendigkeit, Fußballerinnen in Sachen Gehirnerschütterung anders zu behandeln als Fußballer. Das FIFA-Behandlungsprotokoll schließe ein Programm mit ein, das dafür sorgen solle, dass die Aktiven nach Kopfverletzungen nicht zu früh auf den Platz zurückkehrten, ließ der Fußball-Weltverband wissen. “Dieses Konzept beruht eher auf [längeren] Phasen als auf Tagen, sodass es sowohl für Frauen als auch für Personen unter 18 Jahren anwendbar ist.” Erst wenn die Spielerin oder der Spieler jede dieser Phasen der behutsamen Rückkehr zum Fußball ohne Krankheitssymptome absolviert habe, sollte die Erlaubnis erteilt werden, wieder im Wettkampf aufzulaufen. “Bei jüngeren Aktiven und solchen mit bestimmten Risikofaktoren, wie zum Beispiel einer Vorgeschichte mit wiederholten Gehirnerschütterungen oder bei Frauen, muss ein konservativerer Ansatz verfolgt werden”, so die FIFA gegenüber der DW.

Ohne die angeschlagene Alex Greenwood verloren die Europameisterinnen aus England übrigens nach zuvor 30 Spielen ohne Niederlage gegen WM-Gastgeber Australien mit 0:2. Die 29-Jährige, die für ihre abgeklärte und umsichtige Abwehrarbeit bekannt ist, wurde schmerzlich vermisst. Doch die Pause nach dem schweren Aufprall mit dem Kopf war nötig – für Greenwoods nachhaltige Gesundheit, die wichtiger ist als jeder kurzfristige Erfolg. (DW/NN-15-07-23)

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